Seit 1945 ist Forst eine Stadt am Rande. Jetzt wollen engagierte Bürger eine neue Brücke über die Neiße schlagen. Doch sie müssen gegen alte Vorurteile an.
von Christine Keilholz
Forst soll eine Brücke bekommen. Frank Henschel findet, jetzt ist die Zeit dafür gekommen. Schon als junger Mann hat der heute 55-jährige Forster sich dafür eingesetzt, die klaffende Wunde, die der Krieg im Stadtbild hinterlassen hat, zu heilen. Das war 1989, als Henschel im Ökumenischen Friedenskreis aktiv war. „Friedensbrücken statt Friedensgrenzen“, hieß damals das Motto der Engagierten, die sich für eine Öffnung der Grenze nach Polen einsetzten. Aber zum Brückenschlag kam es nie. Von der Langen Brücke in Forst, die einst ein beachtliches Bauwerk von 170 Metern Länge war, ist der Stadt nur ein Stumpf geblieben. „Diese Chance wurde schon zu oft vertan“, sagt Henschel.
Jetzt sei das anders, ist der gelernte Sozialarbeiter überzeugt. Im September wird die Lange Brücke 100 Jahre alt – auch wenn sie drei Viertel der Zeit nicht mehr da war. Langsam dämmert den Forsterinnen und Forstern, dass sie etwas davon haben könnten, wenn an dieser Stelle wieder eine Verbindung wäre. Das hat nicht nur mit dem Strukturwandel zu tun, der kommunale Bauprojekte wie dieses in den Bereich des möglichen rückt. Es liegt eher an der Zeit, die vergangen ist, und die es möglich macht, die lange als Risiko betrachtete Verbindung über den Fluss mit neuen Augen zu sehen. „Ich sehe in diesem Wiederaufbau ein unheimliches Potenzial für eine kleiner werdende Stadt“, sagt Henschel.
180-Grad-Stadt soll endlich rund werden
Seit 77 Jahren endet die Stadt Forst an der Neiße. Nach der erbitterten Schlacht um die kleine Industriemetropole wurden alle Brücken in den Osten der Stadt abgebrochen. Die Neiße wurde zu dem, was die Sowjets zynisch „Friedensgrenze“ nannten – die am stärksten befestigte Grenze im Kalten Krieg. Nur ein Teil des Stadtgebiets blieb erhalten. Forst ist heute „eine 180-Grad-Stadt“, wie Bürgermeisterin Simone Taubenek im vergangenen September sagte. Das war bei einem Fest der Bürgerinitiative Lange Brücke. Damals sprach sich die Bürgermeisterin dafür aus, dass Forst „wieder eine 360-Grad-Stadt“ werden solle. Diese Worte klingen noch nach in den Ohren von Frank Henschel und seinen Mitstreitern. Endlich scheint der politische Rückhalt für den Wiederaufbau so bedeutend, dass es klappen kann.
Das war nicht immer so. Forst hat sich über die Jahrzehnte mit dem 180-Grad-Status arrangiert. Wie sehr, das wurde klar, als die Mauer fiel und die Friedensgrenze bröckelte. Als wieder alles möglich war und als Frank Henschel von einer neuen Zukunft für seine Stadt träumte, die Mittelpunkt von etwas sein könnte. Plötzlich waren da lauter Vorbehalte, was eine so enge Verbindung zum Nachbarland bringen könnte. Alles sprach von Grenzkriminalität, geklauten Fahrrädern und von Billigmärkten, die auf der anderen Seite entstehen würden und der Industriestadt im Wandel den Wohlstand abzöge. Es war die Zeit, als Guben, Bad Muskau und Görlitz ihre Brücken wiederbekamen. So viel Publikumsverkehr wollte Forst dann doch nicht – und solchen schon gar nicht.

„Wenn wir etwas gelernt haben in letzten Wochen, dann dass europäische Solidarität uns schützt“, sagt der Forster Pfarrer Simon Klaas. Deshalb macht er sich für den Wiederaufbau der Langen Brücke stark. Foto: Christian Swiekatowski
Frank Henschel findet es wichtig, diesen Bedenken und Vorurteilen eine eine Vision entgegenzustellen. „Wir dürfen jetzt nicht mehr locker lassen.“ Initiativen, der Stadt die Brücke wiederzugeben, gab es über die Jahre immer wieder. Sie verliefen aber im Sand. Die Wiederaufbau-Bewegung war nie stark genug. Trotzdem, sagt Henschel, war dieses Versprechen nach einer Brücke immer da. „Es hieß immer, irgendwann kommt die Lange Brücke wieder.“ Die kommende Brücke war wohl eher eine Metapher für etwas – aber immerhin war sie Thema.
Stadtpolitik will nun auch den Wiederaufbau
Nun ist die Lange Brücke auch politisches Thema. Das Rathaus hat im Herbst auf Betreiben der Stadtverordneten eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben. Damit ist der Wiederaufbau den Mühlen der Verwaltung übergeben. Eine Bedingung stellten die Kommunalpolitiker: Die Bürger müssen es wollen. Simon Klaas sieht das als Auftrag an sich und die Stadtgesellschaft. Klaas ist 34 und seit Pfarrer der Evangelischen Gemeinde. Klaas hat der Bürgerinitiative Lange Brücke neues Leben eingehaucht. Er ist überzeugt, dass die Forster diese Brücke wollen werden, wenn die erst einmal als Vorhaben greifbar wird.
Dafür müssen die etwa 20 aktiven Brückenfreunde gegen das größte Vorurteil an, das Forst gegen die Ost-West-Verbindung hegt: Dass sie nicht gebraucht werde. Zur tragischen Geschichte von Forst gehört, dass der Ostteil der Stadt nach 1945 völlig verschwand. Um für die Friedensgrenze Platz zu machen, zerstörten die Sowjets den Stadtteil Berge, der nun unter polnischer Verwaltung stand, völlig und vertrieben die rund 10.000 Einwohner. Jahrzehntelang sahen die Forster beim Blick über die Neiße nur Wald und Feld und die kleine Ortschaft Zasieki, die mit ihren 350 Einwohnern nur ein Schatten dessen ist, was dort vor dem Krieg einmal stand.
Neues Zeichen europäischer Solidarität
Simon Klaas kam Anfang 2021 nach Forst. Er teilt sich mit seinem Lebensgefährten, Tobias Jachmann, die Gesamtkirchengemeinde mit ihren 2500 Mitgliedern. Die beiden Pfarrer kennen ein anderes Forst als jenes, das sich in den 1990er Jahren gegen die Verbindung nach Osten stemmte. Das Forst von heute ist eine Kleinstadt mit vielfältigen Verflechtungen über die Grenze hinweg. In dieser Stadt lebt eine rege polnischsprachige Community. Polnische Besucher halten das Forster Schwimmbad am Leben. Forster Naturliebhaber nutzen polnische Radwege. Am Gymnasium geben Polnischlehrer Unterricht. Für eine schrumpfende Stadt mit 17.000 Einwohnern sei es lebensbedrohende, sich nach einer Seite hin abzuschotten, meint Pfarrer Klaas. „Die Stadt muss von allen Seiten Leute ziehen. Forst hat immer das Problem, dass es nur halbes Einzugsgebiet hat.“

„Wir dürfen jetzt nicht mehr locker lassen“, sagt Frank Henschel, der seit 1989 die Lange Brücke neu errichten will. Foto: privat
Klaas sieht den Brückenbau als Teil des Strukturwandels, der ja auch neue Versionen des Zusammenlebens und Arbeitens hervorbringen müsse. Einer Stadt, die attraktiv werden müsse für Zuzügler aus Großstädten und digitale Nomaden, könne ein Brückenschlag auf die andere Seite nur helfen. Auch im Sinne der Verständigung angesichts neuer globaler Krisen und Kriege. „Wenn wir etwas gelernt haben in letzten Wochen, dann dass europäische Solidarität uns schützt.“
Am kommenden Sonntag (8. Mai) lädt die Gesamtkirchengemeinde Forst zum Brückengespräch nach Forst ein. Los geht es 10 Uhr mit einem Gottesdienst. Um 12 Uhr gibt es einen Mittagsimbiss am Rumpf der Langen Brücke am Gutenbergplatz. Um 14 Uhr folgt ein Gespräch mit der Bürgermeisterin von Forst, Simone Taubenek, und dem Bürgermeister der gegenüberliegenden Gemeinde Brody, Ryszard Kowalczuk.