Der Strukturwandel hat nichts mit dem Strukturbruch der 1990er Jahre zu tun, sagt Heinz-Wilhelm Müller. Der Chef der Cottbuser Arbeitsagentur sieht für den Arbeitsmarkt der Lausitz ein viel größeres Risiko als Arbeitslosigkeit.
Frage: Herr Müller, droht wegen des Kohleausstiegs der Arbeitsmarkt wieder in die Krise zu geraten – etwa wie in den 1990er Jahren?
Heinz-Wilhelm Müller: Nein, das wird nicht geschehen. Von hoher Arbeitslosigkeit kann heute überhaupt keine Rede sein. Wir liegen zwischen der Berliner und sächsischen Grenze bei 5,2 Prozent Arbeitslosigkeit. Das ist geringfügig mehr als der Bundesdurchschnitt. Im Kreis Dahme-Spreewald haben wir bald Vollbeschäftigung erreicht. Dieser Trend ist stabil.
Wie kann das sein, dass die Lausitz derart stabil wirkt – obwohl so viele Ängste da sind?
Der Arbeitsmarkt ist deswegen so robust, weil es keine wirtschaftliche Monokultur mehr gibt. Wir haben kein dominantes Unternehmen.
Aber die Kohle…
… auch sie ist nicht mehr dominant. Wir haben über 200.000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse – aber davon nur 4.000 in der Kohle. Das Problem ist eigentlich genau umgekehrt. Die Demografie der Lausitz lehrt uns: Im Moment scheiden viele aus Altersgründen aus – und es kommen zu wenige rein, leider! Das ist ganz anders als in den 90er Jahren.
Trotzdem sind die Sorgen vor einem zweiten Strukturbruch allgegenwärtig. Was ist da los?
Zunächst ist es, wenn Menschen Ängste haben, subjektiv immer berechtigt. Gerade in der Lausitz wo man vor 30 Jahren einen dramatischen Strukturbruch erlebte. Aber die Zahlen und wirtschaftlichen Fakten von heute legen nahe: Es gibt keinen Bruch, keine massive Veränderung in kurzer Zeit, sondern eine allmähliche Veränderung. Wir wissen seit Jahren, dass eine Transformation bevorsteht. Die läuft über fast 20 Jahre bis wahrscheinlich 2038.
Aber da fallen doch Arbeitsplätze weg, oder?
In der Braunkohle ist der größere Teil der Beschäftigten heute über 50 Jahre alt. Das heißt, der kann gar nicht mehr arbeitslos werden. Und die aktive Beschäftigung im Energiesektor wird auch danach nicht auf Null sinken. Es wird weiter ein paar Tausend Menschen geben – die sich allerdings mit anderen Energieträgern beschäftigen.
Zum Strukturwandel gehören große Ansiedlungen von Industrie und Behörden. Bringen die den von Fachkräftemangel geprägten Arbeitsmarkt nicht in Schieflage?
Ansiedlungen sind immer gut. Ich freue mich zum Beispiel, dass wir in Cottbus im neuen Bahnwerk 1.200 gut bezahlte Industriearbeitsplätze bekommen. Damit bekommen wir allerdings ein ganz neues Problem: Wir haben hier gar nicht genug qualifizierte Leute für diese erstklassigen Jobs! Das bedeutet, wir müssen Zuwanderung bewerkstelligen. Wir brauchen Menschen, die diese Professionen beherrschen. Und das sollten, bitteschön, nicht nur jene sein, die gerade in kleineren Unternehmen vor Ort arbeiten. Dann hätten wir eine Sogwirkung, die Kopfzerbrechen in den Betrieben auslöst.
Wer käme für diese Jobs dann in Frage?
Arbeitslose und Rückkehrer.
Aha, wen meinen Sie damit genau?
Zunächst die 16.000 Menschen ohne Job hier in der Region. Die können arbeiten und wollen das hoffentlich auch. Und dann haben wir noch 180.000 Arbeitslose in Berlin. Von denen würde ich gerne einen erheblichen Teil für die guten Jobs hier begeistern. Diese Menschen können übrigens gerne weiter in Berlin wohnen bleiben. Dazu brauchen wir allerdings eine schnellere verkehrstechnische Anbindung an die Hauptstadt. Und dann sind da noch die Rückkehrer…
…die vor 30 Jahren mal in den goldenen Westen gegangen sind.
Genau. Von denen hätten wir gern so viele wie möglich wieder. Das wird sicherlich schwerer, die soziale Einbettung dieser Menschen ist weit fortgeschritten.
Warum ist das Narrativ vom Strukturbruch der 90er noch immer so wirkmächtig beim Blick auf den Strukturwandel von heute?
Die Erfahrung von 1990 spielt objektiv heute keine Rolle mehr. Da der Arbeitsmarkt aber aus Menschen besteht, mit ihren Erfolgen, Misserfolgen und Kränkungen, ist das subjektiv sehr wichtig. Viele Menschen haben hier Schlimmes erlebt in dieser Zeit. Wir hatten 1995 in Senftenberg im Winter eine Arbeitslosigkeit von 30 Prozent. Dazu große AB-Maßnahmen. Damit war man insgesamt schon bei 40 Prozent der Bevölkerung. Das bedeutet, es waren alle Familien von Arbeitslosigkeit betroffen. Das ist bis heute prägend für die Menschen. Das trägt man zeitlebens mit sich herum.
Wie ist die Situation heute?
Heute sind wir in einer völlig anderen Situation. Was wir brauchen, ist Arbeitsmarkt-Zuwanderung von Menschen, die tatsächlich herziehen. Wenn wir Zuwanderung brauchen, braucht die Lausitz ein gutes Image. Wir müssen Stärken und Schönheiten der Region herausstellen, dafür gibt es tausend gute Gründe. Ich zum Beispiel lebe seit 30 Jahren mit Unterbrechungen hier. Ich denke gar nicht daran, wegzugehen – auch nicht, wenn ich in Rente bin.
Die 16.000 Arbeitslosen, die wir heute haben, wer sind die?
Arbeitslose sind prototypisch eher Ältere, Männer, Menschen ohne „verwertbare“ Ausbildung – wie es etwas unschön heißt. Wir können an vielem etwas machen. Wer lange arbeitslos ist, keine Ausbildung hat, aber gern einen Job machen würde – prinzipiell egal, in welcher Branche- , für den oder die finden wir etwas. Oft – nicht immer- ist die einzige Voraussetzung ist: Der Bewerber muss wollen.
Ist die Lausitz ohne die Kohle verloren?
Die Lausitz wird es noch lange geben. Die Kohle aber ist endlich. Das ist so entschieden worden – aus guten Gründen. Die allermeisten wollen keine Klimaerwärmung. Aber die allermeisten wollen auch, dass es Arbeitsplätze gibt, von denen man leben kann. Das wird auch gelingen. Die Lausitz bleibt eine Industrieregion, darüber mache ich mir gar keine Sorgen.
Sondern worum?
Dass wir überhaupt genug qualifizierte Leute hierher bekommen, die die Arbeitsplätze besetzen können. In 20 Jahren haben wir nur noch 70 Prozent der Leute, die wir zum Arbeiten brauchen.

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Heinz-Wilhelm Müller, 62, leitet seit 16 Jahren die Agentur für Arbeit in Cottbus. Der gebürtige Paderborner ist seit fast 30 Jahren bei der Bundesagentur für Arbeit beschäftigt. Müller lebt in Cottbus. Foto: BAMit Heinz-Wilhelm Müller sprach Christine Keilholz.