Schwurbeln und Helfen

27. Dezember 2022

Die einstige Brudernation ist plötzlich Angreifer – trotzdem bleiben die wirtschaftlichen Interessen in Richtung Russland. Einige reagierten darauf mit radikalem Umdenken, andere mit Trotz. Sehr viele aber mit Hilfe – für die Ukrainer.

von Robert Saar

Gorbi, hilf uns! Gorbi, hilf uns!“ Der Mann, der nicht mehr helfen kann, heißt Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Unter Polizeiknüppeln riefen Demonstrierende im Oktober 1989 in Berlin den mächtigsten Mann Europas um Hilfe. Aber diese demokratische Liebe ist vorbei. 
 
Drei Tage vor Silvester 2021 liquidierte Russlands Oberster Gerichtshof die Organisation „Memorial“, die unter dem einstigen Generalsekretär Gorbatschow entstanden war. Im Nachhinein scheint die Auflösung der Organisation, die Stalins Verbrechen aufarbeiten sollte, wie eine dunkle Vorahnung. Denn wenig später überfiel Russland Stalins größtes Opfer: die Ukraine. Dieser Angriff hat das Jahr 2022 geprägt. 

Der 24. Februar, an dem der Eroberungskrieg begann, ist eine Zeitenwende, die viele andere nach sich zog. In der Verteidigungspolitik, in der Energiepolitik und in unserem Verhältnis zu Krieg und Gewalt. Russische Soldaten morden, brandschatzen und vergewaltigen. Das ist auch eine Zeitenwende für viele Ostdeutsche. Die einstige Schutzmacht wird vor den eigenen Augen zum Aggressor und Kriegstreiber. Das ist ein Schock, der Glaubenssätze zerstören kann. Auch das konnte man öffentlich erleben. Nicht nur in den Kommentaren von Politikern, auch auf den Straßen von Cottbus oder Bautzen. Hier meint man, Russland besser zu kennen. Umfragen belegen das.  

Putins Krieg hat Weltbilder zerstört 

Nicht alle sind sogenannte Putinversteher. Uwe Hassbecker, Gitarrist der Band „Silly“, will die Ukrainer nicht im Regen stehen lassen. Gleichzeitig sagte er im Fernsehen: „Es bereitet mir Unbehagen, wenn ich höre, dass Deutschland Waffen liefert, die gegen Russland eingesetzt werden.“ Die Erfahrungen von DDR-Bürgern, in der die Sowjetunion der große Bruder war, sind nach 30 Jahren Wende nicht einfach verschwunden. 

So formulierte es auch Kathrin Michel in einem Neue Lausitz-Interview im Juli. Ihr Weltbild sei erschüttert worden, sagte die Co-Vorsitzende der sächsischen SPD. Vielen Genossinnen und Genossen ginge es ähnlich: „Wir sind damit aufgewachsen, dass die Sowjetunion unser Freund war.“ Sie sagte aber auch: „Putin hat die Ukraine widerrechtlich angegriffen. Er nimmt Tausenden Menschen die Heimat. Das können wir nicht hinnehmen.“ Das aber heißt, die Ukraine aktiv zu unterstützen, etwa mit Waffenlieferungen. 

Ein eindimensionales Verständnis von „Nie wieder Krieg“ ist in diesem Jahr an Grenzen gekommen. Denn die Opfer eines Angriffskrieges nicht mit Waffen zu unterstützen, wäre unterlassene Hilfeleistung, keine Friedensinitiative. Aus dem aufrichtigen Wunsch nach Frieden in der Ukraine speist sich im Osten eine schwer zu fassende Bewegung. In den Städten der Lausitz gingen Bürger mit Rechtsextremen und Verschwörungsideologen auf die Straßen. Sie winkten mit russischen Flaggen, andere belästigten den ukrainischen Botschafter, als der in Berlin den Opfern des Zweiten Weltkriegs gedachte.  

Kretschmer wollte einfrieren, Platzeck zog sich zurück 

In der DDR genossen sowjetische Truppen keinesfalls einen grandiosen Ruf. Trotzdem fällt es auch über 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion manchem im Osten schwer, den Bruch des Völkerrechts durch Russland auch so zu nennen. Wirtschaftssanktionen und Waffenlieferungen sind viel weniger akzeptiert als im Westen. 

Der höchste Repräsentant der Russophilie ist Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer. Im Sommer tourte er durch die Republik und warb für Alternativen. Mal sollte der Konflikt eingefroren werden. Mal wetterte er vor Lausitzer Wirtschaftsverbänden gegen die Außenpolitik der Ampelregierung in Berlin. Kretschmer traf damit den Nerv jenes Teils der ostdeutschen Wirtschaft, der sich Wachstum ohne günstiges Gas aus Russland nicht vorstellen kann. Kretschmers Ansicht, dass Sanktionen Europa mehr schaden als den Russen, ist in Ostdeutschlands Unternehmen weit verbreitet. 

Matthias Platzeck hat diese Ansicht auch lange vertreten. Trotz Russlands Besetzung des Donbass 2014 warb der ehemalige Ministerpräsident Brandenburgs für die Annäherung an Russland. Platzeck vollzog in diesem Jahr seine eigene Zeitenwende. Im Gegensatz zu Kretschmer aber hört man von ihm keine Horrorgeschichten über den Abschwung der deutschen Wirtschaft. Aus Protest über den Angriffskrieg trat der SPD-Politiker nach acht Jahren als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums zurück.  

Cottbus erlebte ein Momentum bürgerschaftlicher Initiative 

Wer zu derart konsequentem Umdenken nicht bereit ist, konterte mit trotzigem Dagegensein. Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht sprach gar von einem „Wirtschaftskrieg“, den die Bundesregierung gegen Russland vom Zaun gebrochen habe. Solcher Provokationen zum Trotz füllt Wagenknecht in Ostdeutschland Turnhallen und bekommt wenig Widerspruch von Parteigenossen. Die Genugtuung, mit der Wagenknecht die Bundesregierung als die dümmste aller Zeiten bezeichnet und Russland in Schutz nimmt, kommt im Osten gut an. 

Moderne Kreml-Propaganda verfängt zusehends auch hier. Ob „Gender-Wahn“, „Deindustrialisierung“ oder die Erzählung von der von Eliten gesteuerten Welt. Auf Lausitzer Marktplätzen wird zuweilen das geboten, was im russischen Fernsehen unter Nachrichten durchgeht. Dabei müssten gerade Ostdeutsche, die sich eigenhändig und friedlich demokratisierten, den Kampf der Ukraine um Selbstbestimmung nachvollziehen können. 

Können sie auch. Cottbus etwa erlebte im Frühling ein Momentum von bürgerschaftlicher Initiative. Der Wunsch, den Kriegsopfern zu helfen, vereinte Menschen im Engagement. Ukrainische Geflüchtete erfahren in der Lausitz Solidarität und Unterstützung von Staat und Gesellschaft. Sachsen reagierte im Frühjahr schnell und schuf 200 Vollzeitstellen für ukrainische Lehrkräfte, während die sich in Baden-Württemberg als freiwillige Helfer registrieren mussten. Am Ende des Tages sind russophile Themen, Ideologien und Andeutungen Richtung wirtschaftliches Ende Deutschlands absurde Zuspitzungen; Lebendig ist die Hilfsbereitschaft in der ausgebaggerten Region. Die Menschen unterstützen und helfen einander. Vor Schwarzmalerei und Panikmache geht das oft unter. Und wird nicht genug wertgeschätzt. Die gemeinsame Vergangenheit von Russen, Deutschen und Ukrainern ist Grund für beides: Schwurbeln und Helfen. 

Dies ist ein Text aus dem Neue Lausitz Briefing vom 20. Dezember 2022.

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