Beistand für Mühlrose

9. Juli 2022

Im letzten Dorf der sächsischen Lausitz, das abgebaggert werden soll, ist die Hoffnung nicht gestorben. Trost spendet die Kirche. Und die Aussicht auf die Energiewende.

Von Christine Keilholz

Waldemar Locke muss zum 31. Dezember ausgezogen sein. Das Haus, in dem er seine 59 Lebensjahre verbracht hat, ist dann nicht mehr seins. Es fällt dem Tagebau Nochten zum Opfer. Dieser Teil seines Schicksals ist besiegelt – der andere noch nicht. Ein neues Haus irgendwo anders kann Locke nicht bauen. Vielleicht zieht er mit seiner Frau nach Bad Muskau, wo ihre Familie ein Anwesen hat. Oder er verlässt die Gemeinde Trebendorf, deren Bürgermeister er ist, komplett und zieht zu den Kindern nach Bayern. 

So ist das mit Mühlrose, dem letzten Ort, der abgebaggert werden soll: Auch nach Jahrzehnten des Kampfes ums Weiterleben ist nichts klar. Die Abbaggerung ist zwar besiegelt, aber noch kann alles anders kommen. Damit zu leben, ist eine Tortur. 645 Jahre ist das Dorf an der Tagebaukante alt. Weil niemand weiß, ob das 650. Jubiläum noch zu schaffen ist, feierten die Mühlroser an diesem Sonntag vorab einen großen Gottesdienst. Von einer Abschiedsfeier wollte keiner sprechen. Auch der Bischof nicht, der eigens angereist war. „Das Wunderbare ist, dass ihr da seid“, predigte Christian Stäblein, Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) zu der Gemeinde aus Alt-Mühlrosern und Neu-Mühlrosern im weißen Festzelt. 

Gehen oder Bleiben: Zerrissenheit geht durch die Familien 

Das waren segensreiche Worte für ein Dorf von wahrscheinlich noch 140 Menschen, die zutiefst uneins sind, über was war und was kommen wird. Uneins sind die bleibewilligen Mühlroser mit der Politik, die sie trotz beschlossenem Kohleausstieg als Letzte dem Raubbau opfern will. Und mit dem Bergbau-Betreiber Leag, der zwar schon einige Grundstücke besitzt, aber noch kein Bergrecht über das Dorf hat.

Zwar ist mit dem Revierkonzept von 2019 das Ende Mühlroses beschlossen. Aber danach kam eben der Kohleausstiegsbeschluss, der neue Hoffnung brachte. Nun aber redet der Bund wieder von einer möglichen Verlängerung der Braunkohleverstromung, wenn wegen des Ukrainekriegs kein russisches Gas mehr fließt. 

Für Mühlrose ist das ein weiterer Temperaturschock. Ein Dorf, das dem Tod geweiht ist, ist ein besonderer Fall für die Seelsorge. „Man steht oft zwischen den Stühlen“, sagt Pfarrerin Jadwiga Mahling, „die Zerrissenheit geht oft durch die Familien.“ Einige wollen hier bleiben. Sie müssen nun zusehen, wie die Häuser der weggezogenen Nachbarn nach und nach abgerissen werden. „Das ist demoralisierend“, sagt die Pfarrerin. Dass sich – wie bei diesem Gottesdienst – Menschen aus beiden Lagern begegnen, passiere kaum mehr. Insgesamt sei die Stimmung sehr angespannt. 

Bürgermeister verhandelt mit seinem Arbeitgeber über den Abriss 

Bischof Stäblein war schon öfter in Mühlrose. Er kennt die nicht enden wollenden existenziellen Fragen, die die Einwohnerinnen und Einwohner belasten. Und die Wunden, die ihnen zugefügt wurden. „Gott will nicht, dass sich Generation um Generation beschimpft und die Schuld gegenseitig die Schuld in die Schuhe schiebt“, gibt er der Gemeinde mit. 

Bürgermeister Locke hat die Zerrissenheit in seiner eigenen Familie. Mit der Schwester ist er nie einig geworden, was mit dem elterlichen Haus werden soll, in dem er noch wohnt. Und er hat die Zerrissenheit in sich selbst. Die Leag, die sein Haus wegbaggern will, mit der er jetzt über den Verkauf des letzten kommunalen Eigentums in Mühlrose verhandeln muss, ist auch seine Arbeitgeberin. Locke ist Kippenstützenfahrer. Gefragt nach dem Strukturwandel, endet fast jeder seiner Sätze mit einem Fragezeichen: Kommt das Bergrecht? Kann Mühlrose doch noch bleiben? Woher kommen neue Industriearbeitsplätze, wenn die der Tagebau Nochten in vier Jahren dicht macht?

Positive Aussagen hat der Strukturwandel ihm bisher nicht gebracht, sagt er. Die Projektanträge, die er für die Gemeinde Trebendorf gestellt hat, seien allesamt nicht durchgekommen. Ihn ärgern die neuen Straßenbahnen, die Görlitz bekommt, und die Landesuntersuchungsanstalt in Bischofswerda. Beides teuer und weit weg von Mühlrose. „Wir geben hier alles auf“, sagt er. „Ich bin davon ausgegangen, dass man uns hilft, aber wir sind hinten runtergefallen.“ 

Vielleicht stehen bald Windräder auf der Hochkippe von Mühlrose 

Aber es gibt etwas, das dem Bürgermeister von Trebendorf ein Blitzen in die Augen zaubert. Das ist das Stichwort Wind. Investoren haben Interesse angemeldet, am Rande des geschundenen Mühlrose einen Windpark zu bauen. „Das ist ein El Dorado geworden“, sagt er. Nicht nur, weil der Wind so kräftig weht über dem Tagebaurand und den Kippen. Sondern auch, weil in einem leeren Dorf nicht um Akzeptanz für die Windräder geworben werden muss. Noch weiß Waldemar Locke nicht, welche Art von Zukunft dieser Wind bringen kann. Aber der Gedanke daran gefällt ihm. 

Zum Gottesdienst in Mühlrose sind Gäste aus anderen Dörfer gekommen, die es so nicht mehr gibt. Birgit Jeschke hat das Ende von Lakoma am Cottbuser Ostsee miterlebt. Sie kennt die großen Dramen, die sich abspielen, wenn abgesiedelt wird. Kann es eine Dorfgemeinschaft geben ohne Dorf? Sie ist skeptisch: „Wenn Dorf physisch nicht mehr da ist, existiert es nicht mehr.“ 

Bischof Christian Stäblein setzt auf das Prinzip Hoffnung. Eine Woche zuvor hat er beim Lausitz-Kirchentag in Görlitz gesagt: „Mein Beruf ist es, Menschen dabei zu begleiten, aus der Unfreiheit in die Freiheit zu gehen.“ Den Menschen von Mühlrose sagt er: „Ich wünsche mir, dass ich wiederkomme und es Euch noch gibt. Dann habt ihr hier, die ihr geblieben seid, das Haus an der Wasserkante.“