Wissensmetropole Görlitz

23. Mai 2023

HINTERGRUND / STÄDTE IN DER LAUSITZ

Was die Dichte an neuen Forschungseinrichtungen betrifft, liegt Görlitz nur knapp hinter Cottbus. Wie kam die Stadt an der Neiße, die bisher als Filmkulisse bekannt ist, an so viele Ansiedlungen?

von Christine Keilholz

Ein Construction Future Lab und ein Senckenberg Campus sind die neuesten Errungenschaften der Stadt Görlitz im Strukturwandel. Ersteres ist ein Forschungszentrum für Digitalisierung am Bau, das drei Professoren aus Dresden in Görlitz aufbauen wollen – unterstützt mit neun Millionen Euro aus der Landeskasse. Zweiteres ist die Aufwertung des Museums für Naturkunde zu einer Forschungsstätte mit 140 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Auf dem 8.000 Quadratmeter großen Senckenberg Campus, dessen Bau 64 Millionen Euro kostet, soll in großem Umfang geforscht werden. Der Start ist für Ende 2025 angesetzt. Das Signal: In Görlitz ist ein Wissenschaftsaufbau im Gange. 

Das wird auch von Wirtschaftsexperten wahrgenommen. „Görlitz hat es geschafft, sich bei allen möglichen Wettbewerben um Forschungseinrichtungen gut zu positionieren“, sagte der Ifo-Ökonom Joachim Ragnitz vor wenigen Wochen in der Neuen Lausitz. „Das ist der wichtigste Faktor, wenn es um nachhaltige gute Entwicklung einer Stadt geht.“ 

Dass es beim Strukturwandel auf Bildung und Wissenschaft ankommt, hat inzwischen auch jene überzeugt, die vordem noch auf Industrieansiedlungen hofften. Entsprechend sind Institute zum Hauptpreis für Kommunen geworden, die sich Zukunft und Zuzug sichern wollen. Doch müssen Weißwasser, Hoyerswerda und Bautzen immer öfter feststellen, dass diese Hauptpreise an ihnen vorbei wandern und in Görlitz landen. Das hat gute Gründe. 

Zweite Metropole in der Lausitz 

Görlitz ist nicht nur die Heimatstadt des Ministerpräsidenten – was nicht selten als Grund für den reichen Ansiedlungssegen gilt. Görlitz ist auch die einzige Stadt in Ostsachsen mit Metropol-Charakter. Mit 55.000 Einwohnern kann Görlitz mehr Magnetwirkung entfalten als jede andere Kommune in Ostsachsen. Die Stadt hat in den zurückliegenden Jahren viel getan, um sich als zweite Metropole in der Lausitz ins Bewusstsein zu bringen – neben Cottbus. Dazu gehört auch das Selbstverständnis, nicht am Rande von Deutschland zu liegen, sondern in der Mitte Europas.

Als schöne Filmkulisse mit altehrwürdiger Innenstadt hat sich Görlitz ein überregional positives Image erworben. Das ist nicht nur wichtig, um Touristen anzulocken. Es ist im Wettstreit um fachkundige Zuzügler ein Standortvorteil: Schöne Städte versprechen mehr Lebensqualität und ein inspirierendes Umfeld.

IT-Cluster statt Görliwood

Seit Jahren arbeiten Stadt, Kreis und Freistaat daran, Görlitz ein Profil von IT und Big Data zu geben. Die Ansiedlungen sind dabei unverzichtbar. Die erste Marke setzte das 2019 gegründete Center for Advanced Systems Understanding (Casus), das eine Anlaufstelle für internationale Forscher werden soll. Formal ist Casus mit seinen 75 Mitarbeitern eine Filiale des Helmholtz-Zentrums Dresden-Rossendorf (HZDR). An der Gründung waren überdies das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig, das Dresdner Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik (MPI-CBG) beteiligt – daneben die TU Dresden und die Universität Wrocław. Der Bund finanziert die Einrichtung mit zehn Millionen Euro für die ersten drei Jahre, der Freistaat Sachsen legt eine Million dazu. Soeben hat mit Thomas D. Kühne ein neuer Direkter bei Casus angefangen. Der Informatiker lässt für den Job bei Casus einen Lehrstuhl an der Universität Paderborn hinter sich.

Eine zweite wichtige Investition ist das Hydrogen Lab auf dem Siemens-Innovationscampus. Nachdem der Konzern dort die Produktion reduziert hat, übernahm Fraunhofer einen Teil des Geländes. Damit bespielt Sachsen das vielversprechende Zukunftsthema Wasserstoff an einem Ort, der früher für industrielle Wertschöpfung stand.

TU Dresden steht Pate

Ein Coup gelang schließlich mit dem Deutschen Zentrum für Astrophysik (DZA). Das Projekt, das den Wettbewerb ums Lausitzer Großforschungszentrum für sich entschied, wird seine Zentrale Görlitz haben – auf einem ehemaligen Klinikgelände. Mit dem DZA soll in Görlitz eine Art Wissenschafts-Stadt entstehen, die 1.500 Menschen Arbeit gibt.

Für Görlitz und Ostsachsen ist das eine unerwartete Karriere. Görlitz verfügt über keine eigene Universität. Die Hochschule Zittau-Görlitz ist mit rund 100 Professuren und 2.800 Studierenden zu klein, um als fester Anker für das neue Wissenscluster zu dienen. Zum Glück ist mit der TU Dresden eine Einrichtung mit Exzellenzprädikat nicht weit entfernt. Zwar liegt Dresden nicht im Fördergebiet des Strukturwandels, trotzdem ist die TU mit zahlreichen Projekten in der Lausitz vertreten – wie das Construction Future Lab. Auch das Zentrum für Astrophysik – ein Mammutprojekt des Wissenschaftsaufbaus – wäre so nicht möglich, würde nicht die TU Dresden Personal und Infrastruktur zur Verfügung stellen. Solange sich der Bau in Görlitz hinzieht, kommen die Astrophysiker vorläufig an der TU Dresden unter. Bis das neue Zentrum des Wissens an der Neiße aus eigener Kraft steht.