Brauchen wir wirklich tausende neue Arbeitsplätze?

4. Oktober 2023

ANALYSE / AUFBAU OST IN DER LAUSITZ

Der Aufbau Ost ist nicht mehr, was er mal sein sollte. Heute lautet die Frage: Wie setzt man Signale von Aufbruch in Zeiten des Fachkräftemangels? Die Antwort hat die Lausitz.

von Christine Keilholz

Blühende Landschaften und schöne Städte wie Finsterwalde. So weit war der Aufbau Ost erfolgreich. Foto: Stadt Finsterwalde
Blühende Landschaften und schöne Städte wie Finsterwalde. So weit war der Aufbau Ost erfolgreich. Foto: Stadt Finsterwalde

Der Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit ist nicht keine große Literatur. Was drin steht, ist selten brisant und meist bekannt. Immerhin macht der Bericht alle Jahre wieder deutlich, warum der Aufbau Ost und seine Fortsetzung – der Strukturwandel in den Kohleregionen – eine solche Zumutung für uns sind: Weil alles so lange dauert. Wir müssen aushalten, dass wir Verbesserungen kaum mit bloßem Auge erkennen, sie bestenfalls in der Rückschau sehen, was noch dauern wird. Und nicht bei jeder Maßnahme zweifelsfrei sagen können, ob wie erfolgreich war oder nicht.

Und noch etwas: In einem Prozess von einem Dritteljahrhundert kann sich einiges ändern. Manche Probleme verschwinden, werden gelöst und andere tauchen auf, mit denen nicht zu rechnen war. Vor 33 Jahren hätte wohl kaum jemand damit gerechnet, dass im Osten die Arbeitslosigkeit einmal nicht mehr das alles beherrschende Übel sein würde – sondern das Gegenteil. Anfang der 1990er Jahre lag die Arbeitslosigkeit in der Lausitz stellenweise bei 30 Prozent – heute ist der Mangel an Menschen das größte Hindernis für den Aufschwung.

„Projektionen für die Periode 2020–2040 zeigen, dass für alle Kohleregionen die Entwicklung des Arbeitskräfteangebots jedoch eine herausragende Herausforderung darstellt“, heißt es im Bericht zum Thema Kohleregionen. Bekannt ist das nicht erst seit gestern. Doch der Bericht, der die zahlreichen Maßnahmen zum Aufbau Ost aufzählt und abhakt, zeigt damit auch, wie schwer es fällt, solche Veränderungen zur Kenntnis zu nehmen. Wenn das Grundproblem, einer regionalen Wirtschaft sich in sein Gegenteil verkehrt, müssten auch die Maßnahmen dagegen geändert werden. Die wichtigste Frage in der Lausitz 33 Jahre nach der Wiedervereinigung, lautet: Wie setzt man Signale von Prosperität und Aufbruch unter den Vorzeichen des Fachkräftemangels?

Geld, Jobs, Ausbildungsplätze. Was sonst?

Anfang der 1990er Jahre brachten große Ansiedlungen von Industrieunternehmen nicht nur Prestige und Leuchtturmwirkung in die Regionen, sondern dazu noch viele tausend Arbeitsplätze auf einen Schlag. Wo das nicht ging, konnte der Staat mit Behördenansiedlungen ähnliche Effekte erreichen und Hunderte von Dienstleistungsjobs schaffen. 9.500 Arbeitsplätze durch Bundesbehörden, das war das Versprechen der Bundesregierung an die strukturschwachen Regionen im Osten. Allein diese Zielgröße weckte Hoffnungen.

Heute wecken solche Zahlen eher Skepsis, denn die Arbeitskräfte sind meist nicht dort, wo die Behörden hin sollen. Im Landkreis Bautzen liegt die Arbeitslosenquote aktuell bei 6,2 Prozent, im Landkreis Görlitz bei 8,5 Prozent. 8,4 Prozent in Forst im Landkreis Spree-Neiße , das ist der höchste Stand in der Niederlausitz. Luckau im Landkreis Dahme-Spreewald ist mit 3,1 Prozent schon lange in der Vollbeschäftigung angekommen.

Zielgrößen sind schön und gut, aber Jahre später nicht mehr unbedingt sinnvoll. Mit dem Kohleausstieg hat sich der Bund verpflichtet, die Attraktivität der betroffenen Regionen als Wirtschaftsstandorte zu erhöhen. Das geschieht klassischerweise durch Geld, Jobs und Ausbildungsplätze. Wie auch sonst? Darauf hat noch niemand eine Antwort.

Zuversicht ist auch ein Standortfaktor

So wird die Arbeitsplatzpolitik unverdrossen fortgesetzt. Große Ansiedlungen mit vielen Arbeitsplätzen, das ist in Brandenburg nicht nur Strategie – sie geht auch auf. Mitten in der Transformation der Automobilindustrie haben sich gleich mehrere Batterie-Hersteller im Südraum Berlin eingefunden. Jedes davon verspricht, Hunderte Menschen in Arbeit zu bringen. Natürlich sind das Erfolge, aber Obacht: Die regionalen Arbeitsmärkte und die Industrie sehen heute anders aus als nach der Wiedervereinigung. Ein Referenzkraftwerk braucht nur noch ein paar Dutzend Leute, die steuern und regeln.

Die Großfabriken der Chipindustrie arbeiten heute weitgehend mit Robotern. Das Bahnwerk in Cottbus, das als neuer Arbeitgeber für die Facharbeiter der Kohleindustrie gedacht war, saugt den Unternehmen der Region die Mitarbeiter ab. Bundesbehörden wie das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle in Weißwasser sind eine willkommene Job-Alternative für Dienstleistungspersonal – das reißt gerade in den Rathäusern der Umgebung Personallücken.

Mit Arbeitsplatzpolitik soll das Gefühl des Abgehängtseins und des Stillstands bekämpft werden, das sich in Teilen der Bevölkerung gehalten hat. In der Lausitz lautet das Credo von Politik und Verwaltung: Es muss etwas getan werden gegen die Angst vor dem Strukturbruch. Die traumatische Erfahrung der 90er Jahre, die für viele Menschen noch sehr präsent ist, darf die Politik nicht ignorieren. Schon allein deshalb, weil auch Zuversicht ein Standortfaktor ist. Die Leistungsfähigkeit und Wandlungsfähigkeit einer Gesellschaft hängt auch davon ab, was sie von sich hält und sich zutraut.

Strukturwandel setzt auf Langzeiteffekte

Was also ist zu tun? Welche Wohltaten kann man ausschütten über einem Ostdeutschland, das Angst hat vor Arbeitslosigkeit, obwohl die Arbeitskräfte fehlen? Die Antwort liegt in der Lausitz. Der Strukturwandel setzt auf den Langzeit-Effekt. Neue Forschungsinstitute schaffen Jobs für die nächste Generation. Solche Einrichtungen bringen urbane Arbeitsstrukturen aufs Land und sprechen damit junge Leute an, die sich ganz selbstverständlich zwischen Stadt und Land bewegen.

Nach der Wiedervereinigung waren Großansiedlungen das schnelle Mittel, um Menschen in gute neue Jobs zu bringen und damit den sozialen Frieden zu wahren. Heute zeigt sich der positive Effekt auf den Arbeitsmarkt erst langfristig, denn die Fachkräfte müssen zuvor ausgebildet werden. Das merken etwa die Forschungsinstitute, deren künftige Mitarbeiter erst in ein paar Jahren von der Uni kommen. Der kurzfristige Effekt ist aber, dass solche Einrichtungen Arbeitskräfte aus den umliegenden Unternehmen absaugen. Das ist heute fundamental anders als vor 30 Jahren. Es wäre an der Zeit, die Zielgrößen und Messzahlen für erfolgreiche Strukturpolitik entsprechend anzupassen.