Das wichtigste Gutachten für die Lausitz bescheinigt einen Rückgang bei den Abiturzahlen. Diese Analyse ist falsch. Die Zahlen steigen teilweise sogar.
Es ist einer der bedeutsamsten Berichte über die Transformation der Lausitz. Aber an einer entscheidenden Stelle der Evaluierung des Investitionsgesetzes Kohleregionen (InvKG) wird eine Zahl verwendet, die Rätsel aufgibt. Die Autoren vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsförderung (IWH) in Halle schreiben in dem 150 Seiten langen Bericht, dass es in der Lausitz einen steilen Abfall der Abiturquoten gebe. Sie haben dafür eine Grafik erstellt, die geradezu Angst macht. Danach sollen die Abiturquoten in den Landkreisen Oberspreewald-Lausitz und Elbe-Elster um zwölf bis 13 Prozentpunkte abgesackt sein. Das hieße, es hätte 2021 in manchen Kreisen rund ein Drittel weniger Schüler die allgemeine Hochschulreife erworben als noch 2012. So stellen es die Forscher dar. Recherchen der Neuen Lausitz ergaben: Diese Darstellung ist falsch. In Wahrheit steigen die Abi-Quoten im Zehnjahresvergleich teilweise sogar.
Das hindert die Autoren des Gutachtens für Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/die Grünen) aber nicht daran, weitreichende Interpretationen aus dem vermeintlichen Einbruch der Gymnasialabsolventen zu ziehen. „Insbesondere in den Lausitzer Kreisen sind starke Rückgänge des Anteils der Schulabgänger mit Hochschulreife relativ zum Jahr 2012 zu verzeichnen“, heißt es in dem Text. Dies deute darauf hin, „dass das Potenzial für zukünftiges Wirtschaftswachstum in dieser Region möglicherweise eingeschränkt ist.“
IWH-Direktor Oliver Holtemöller sah auf Anfrage „keinen Korrekturbedarf bei den Hauptthesen„. Er sagte der Neuen Lausitz, dass „die Wahl eines Basis- oder Vergleichsjahres immer problematisch ist„.
Einmaliges Hoch in der Statistik
Tatsächlich wäre ein Zusammenbruch der Abiturientenzahlen ein Rückschlag für die Lausitz. Ihre Zukunft wird wie in kaum einer anderen Region Deutschlands auf Hochtechnologie gebaut. Vom Casus-Zentrum für Informatisches System-Verständnis in Görlitz über das Deutsche Zentrum für Astrophysik bis zum Lausitz Science Park an der BTU Cottbus-Senftenberg investiert die Lausitz in alles, was Hi-Tech mit Wirtschaftsentwicklung verbinden soll. Diese Millionenprojekte können nicht erfolgreich sein, wenn die Schulabgänger fehlen, die Maschinenbau, Physik oder Informatik studieren können.
Aber worauf beruht der Fehlgriff, den die Gutachter vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle gemacht haben? Auf einem historische Einmal-Effekt in der Schülerstatistik. In Brandenburg wirkte sich das verkürzte Gymnasium G8 im Jahre 2012 erstmals aus. Das führte zu der einmalig hohen Abiturientenquote von knapp 64 Prozent – weil zwei Abitur-Jahrgänge auf einmal auf den Markt kamen. Das war in ganz Deutschland so. Habecks Gutachter aus Halle haben diesen einmaligen Peak in der Abitur-Statistik zur Grundlage eines Langzeit-Vergleichs gemacht, der dramatische Verluste markiert. Minus neun Prozentpunkte im Landkreis Spree-Neiße, minus acht in Dahme-Spreewald, sogar in Cottbus soll die Rate von 52 Prozent Abiturienten um elf Punkte eingebrochen sein.
Ein Blick auf die Langzeitentwicklung der Abiturquoten in Brandenburg offenbart: der Vergleichswert 2012 ist kaum geeignet für eine wirklichkeitsnahe Analyse. Nimmt man die Abiturquoten des Jahres 2013 als Vergleichswert, macht die Entwicklung einen ganz anderen Eindruck als im Gutachten für das Ministerium. In Cottbus würde dann die Zahl nicht um elf Punkte fallen, sondern nur um drei. Im Landkreis Elbe-Elster bliebe die Abiturquote quasi gleich. In Spree-Neiße würde die Rate der Abiturienten um drei Punkte steigen, in Dahme-Spreewald sogar um fünf – und nicht etwa um acht bzw. neun Prozentpunkte fallen, wie der Transformationsbarometer der Regierung suggeriert.
Vorrang der Gymnasien ist das Problem
Tatsächlich lässt sich aus den Grafiken der Forscher eine Interpretation formulieren. Sie fällt aber ganz anders aus. Das Problem der Abi-Quote liegt nicht in der Lausitz, sondern im mitteldeutschen Revier, also in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Vergleicht man etwa die Zahlen der Lausitz mit denen des Saalekreises in Sachsen-Anhalt oder von Nordsachsen, dann muss man zu dem Schluss kommen: diese Regionen bringen alarmierend wenig Hochschulnachwuchs hervor. Dort liegen die Abiturraten nur bei 26 Prozent. Das ist im internationalen Vergleich eine Negativausnahme. Aber es ist auch für die wirtschaftliche Entwicklung von Strukturwandel-Regionen ein Hindernis.
Es findet sich eine Erklärung für die Zahlen. Die liegt aber nicht in der Statistik selbst, sondern in der Bildungspolitik. Warum sind die Abiturraten in Sachsen und Sachsen-Anhalt viel kleiner als in Brandenburg? Weil Brandenburg ein System von Gymnasien und Gesamtschulen entwickelt hat, das den Durchstieg nach oben zum Abitur für breite Schichten öffnet. Sachsen und Sachsen-Anhalt hingegen beharren auf dem Vorrang der Gymnasien. Demnach darf in anderen Schulformen nur in Ausnahmefällen das Abitur errungen werden. In beiden von der CDU regierten Ländern existieren bereits Öffnungsklauseln in Form von Gemeinschaftsschulen im Schulgesetz. Aber diese dürfen kaum genutzt werden.
Dies ist ein Beitrag aus dem Neue Lausitz Briefing vom 7. November 2023.

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