„Das Engagement von Unternehmern fehlt im Osten“

29. Oktober 2024

INTERVIEW / JOACHIM RAGNITZ ÜBER STRUKTURWANDEL UND MITTELSTAND

An die 99 Prozent der ostdeutschen Unternehmen gehören dem Mittelstand an. Doch zum West-Mittelstand gibt es gravierende Unterschiede. Es wird Zeit, dass diese Unternehmen mehr Aufmerksamkeit bekommen, sagt der Dresdner Ökonom Joachim Ragnitz im Interview.

Wenn Intel nicht nach Sachsen-Anhalt kommt, könnte man die zehn Milliarden Euro Subventionen ja mal sparen, sagt Joachim Ragnitz. Foto: ifo
Wenn Intel nicht nach Sachsen-Anhalt kommt, könnte man die zehn Milliarden Euro Subventionen ja mal sparen, sagt Joachim Ragnitz. Foto: ifo

Herr Prof. Ragnitz, vom Mittelstand im Osten ist in letzter Zeit oft die Rede. Woran liegt das?

Die Wirtschaft des Ostens ist praktisch nur Mittelstand. Und der spürt aktuell einen hohen Druck in ganz Deutschland. Der Mittelstand leidet unter hohen Energiepreisen, Regulierung und Bürokratie. Hinzu kommt, dass immer weniger Arbeitskräfte verfügbar sind. Weil das für immer mehr Unternehmen spürbar wird, melden sich immer mehr zu Wort.

Warum liegt trotzdem der Fokus auf der Industrie, wenn es um die Wirtschaft im Osten geht?

Die Bundespolitik konzentriert sich bei der Problemlösung auf die Großen, und das sind zumeist Industriebetriebe. Mit den Industriestrompreisen hat man primär die Großen adressiert. Größere Unternehmen bekommen mehr Aufmerksamkeit, können ihre Positionen leichter in den politischen Prozess einzubringen. Da müssen die mittelständischen Unternehmen zeigen: Wir sind auch da, unsere Probleme werden ignoriert. Das tut der Mittelstand eher auf lokaler, regionaler Ebene, weil er dort mehr bewirken kann. So gesehen, ist das auch positiv, wenn die vielen kleinen nun sagen, uns gibt es auch.

Wer ist eigentlich der Mittelstand im Osten?

Größenmäßig sind das alle unter 250 Mitarbeitern. Das sind im Osten an die 99 Prozent. Gemeint sind mit Mittelstand aber meist die eigentümergeführten Unternehmen und hier vor allem jene aus dem gewerblichen und produzierenden Bereich, die nah an der Industrie arbeiten. Die meisten davon sind in den letzten 30 Jahren entstanden. Die meisten hatten permanent zu kämpfen, besitzen wenig Kapital und konnten kaum investieren. Daneben hatten die Eigentümer wenig Zeit, sich politisch zu engagieren. Wenn sich das jetzt ändert, ist das super. Damit wächst das gesellschaftliche Engagement, das besonders wichtig ist in strukturschwachen Regionen und in den kleinen Gemeinden, die mit Abwanderung zu tun haben. Diese Art von Engagement hat im Osten lange gefehlt.

Wo steht dieser Teil der Wirtschaft politisch?

Es gibt ja nicht „die Wirtschaft“. Es gibt natürlich auch viele Unternehmer, die der AfD nahestehen und eher auf Abschottung als auf Öffnung setzen und die mit einer Stimme für die AfD vor allem auch ihren Unmut über die Bundespolitik zum Ausdruck bringen wollen. Wir haben aber auch viele andere Unternehmen, die dynamischer sind, die nun verstärkt gegen alle möglichen Belastungen kämpfen, die sie im Alltag haben. Die brauchen nicht nur dringend Arbeitskräfte, sondern die wollen auch verhindern, dass ein Image-Schaden entsteht, der dazu führt, dass keine Menschen zuwandern und sich das Problem dadurch noch verschärft.

Wie steht es um die Industrie?

Wir haben ein paar Industriezweige, die tatsächlich Probleme haben. Insbesondere die energieintensiven Betriebe, die liegen bei der Leistung um die 20 Prozent unter dem Niveau 2020. Insofern könnte man von einer gewissen Deindustrialisierung sprechen. Auch der Automobilbau steht unter Druck, vor allem wegen der neuen Konkurrenz von Herstellern aus China, die Elektroautos einfach billiger bauen können. Von einer massiven Deindustrialisierung kann aber keine Rede sein. Die Industrie ist in einer schwachen Phase, aber es gibt ja auch Bereiche, die wachsen. Und ohnehin steigert die industrielle Schwäche den Zwang, sich neu aufzustellen. Was ja eine positive Folge wäre.

Und warum bleiben große Ansiedlungen weg, trotz hoher Subventionen? Sachsen-Anhalt muss nun wohl ohne Intel auskommen.

Das ist eine unternehmerische Entscheidung von Intel, die Erklärungen muss man eher dort suchen. TSMC baut ja trotzdem in Dresden. Wenn Investoren aus dem Ausland kommen, sei es aus China, aus Taiwan oder anderswo her, ist das ein Vertrauensbeweis in die wirtschaftliche Landschaft Ostdeutschland und spricht für eine weitere Industrialisierung. Jedenfalls dann, wenn sie nicht einfach Technologien abgreifen. Das sind allerdings Unternehmen, die sich nicht großartig in der Region engagieren werden.

Wie die viel diskutierten verlängerten Werkbänke.

Verlängerte Werkbänke sind ein Großteil der Industrie im Osten. Das wird nicht mehr so heftig diskutiert, weil die Wertschöpfung in diesen Branchen trotzdem hoch ist. Das sehen wir an der Halbleiterindustrie in Dresden, die ja auch aus Filialen großer Unternehmen besteht. Die Debatte wird aber wieder hochkochen, wenn Betriebe im Osten geschlossen werden, weil Investitionsentscheidungen zugunsten der Mutterstandorte getroffen werden. Damit wird der Osten noch eine Weile zu tun haben. Denn es wird dauern, bis die eigenen Unternehmen so weit gewachsen sind, dass sie als Wirtschaftsgröße und als Arbeitgeber neben der Industrie ernst genommen werden.

Wird der Wasserstoff dafür sorgen, dass die ostdeutsche Wirtschaft als Ganze ernster genommen wird?

Ich bin noch im Zweifel, ob es wirklich auf den Wasserstoff hinausläuft, denn der muss ja erstmal produziert werden. Aber ja, der Norden Deutschlands hat Standortvorteile bei den regenerativen Energien und ist deshalb aktuell von besonderem Interesse für regenerative Wirtschaftszweige und Wasserstoffhersteller. Wenn man Elektrolyseure aufbaut, dann dort, wo man Windkraft gewinnen kann. Mittel- bist langfristig kann das dazu führen, dass sich Kapazitäten vom Süden nach Norden verschieben. Der Standortvorteil des Südens war lange die billige Energie aus Atomkraftwerken. Das wird sich unter Bedingungen der CO2-neutralen Produktion zwangsläufig ändern.

Wenn Intel nicht nach Sachsen-Anhalt kommt, werden zehn Milliarden Euro an Subventionen frei. Wie setzen wir die am besten ein?

Man könnte mal zehn Milliarden sparen. Auch das kann der Wirtschaft dienen. Aber so tickt Politik nicht. Mein Vorschlag: Ein Strukturstärkungsgesetz, wie wir es für die Kohleregionen haben, legen wir auch für andere auf. Es gibt genug Regionen, die genauso strukturschwach sind, aber nicht begünstigt durch 40 Milliarden Euro wie die Kohlereviere in Deutschland. Ein Regionalförderprogramm, mit dem Altmark, Uckermark oder Mansfeld-Südharz in gleichem Maße investieren können. Das würde der ostdeutschen Wirtschaft langfristig mehr bringen als Subventionen für Großprojekte. Ansonsten hätte die Lausitz dauerhaft einen Wettbewerbsvorteil vor anderen Regionen.

Joachim Ragnitz, Jahrgang 1960, ist seit 2007 Vize-Geschäftsführer des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in Dresden. Davor war der promovierte Volkswirt ab 1994 Abteilungsleiter am Institut für Wirtschaftsforschung in Halle. Ragnitz ist Mitglied in verschiedenen Beratungskommissionen auf Bundes- und Landesebene. Sein Hauptarbeitsgebiet ist die wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland. Mit Joachim Ragnitz sprach Christine Keilholz.